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Blutbildveränderungen

HIV und Zytopenie: Hämatologische Komplikationen der HIV-Infektion

Manfred Hensel, Christoph Plöger, Mannheimer Onkologie Praxis

Die unbehandelte HIV-Infektion kann die Ursache vielfältiger Laborveränderungen sein. Sie führt häufig zu peripheren Zytopenien (Anämie, Leukopenie, Thrombopenie), fast immer auch zu polyklonaler Immunglobulinstimulation und gelegentlich einer monoklonalen Gammopathie. Über die Bedeutung der monoklonalen Gammopathie finden Sie hier weitere Information: http://www.mannheimer-onkologie-praxis.de/connexi_2013-02_Sonderdruck_Hensel.pdf.

Das Auftreten der peripheren Zytopenien kann sowohl eine direkte Folge der Infektion mit dem HI-Virus sein als auch Begleiterscheinung der Therapie.

Laborexperimente haben gezeigt, dass HIV direkt zu einer Suppression des Knochenmarks führen, indirekt aber auch über virale Proteine und Immun- und Zytokindysregulation Zytopenien verursachen kann.

Auch die Therapie der HIV-Infektion sowie der begleitenden Infektionen kann die Ursache von Zytopenien sein. In der Vergangenheit war Zidovudin die Hauptursache für eine Anämie, weniger häufig auch für Neutropenie und sehr selten auch für Thrombopenien. Die Behandlung mit Trimethoprim-Sulfamethoxazol kann dosisabhängig zu Knochenmarksuppression führen. Auch die Therapie mit Ganciclovir, intravenös und oral, kann Zytopenien verursachen und erfordert in der Folge gelegentlich den Einsatz von Erythropoetin und G-CSF. Ähnliches gilt für Amphotericin B. Aciclovir hat in der Regel keine Knochenmarktoxizität.

Anämie

Die Anämie ist die häufigste Zytopenie bei HIV-infizierten Menschen. Früher war sie hauptsächlich durch die Gabe von Zidovudin (ZDV) verursacht worden. Bei den heute eingesetzten Nukleosidanaloga sowie Proteaseinhibitoren tritt dieses Phänomen kaum noch auf. Verschiedene Studien einschliesslich der Multi-Center-AIDS-Cohort-Study haben gezeigt, dass die Anämie ein unabhängiger Prädiktor für das Überleben ist. Ca. 50 % der Fälle von Anämie können auf die Immunsuppression durch Medikamente zurückgeführt werden. Andere Gründe können Hämolyse, gastrointestinale Blutungen, Fehlernährung und verminderte Erythropoetinresponse sein. Parvovirus B19 Infektionen machen bis zu 15 % der transfusionspflichtigen Anämien bei HIV-Infektionen aus. Hierbei zeigt sich eine typische Befundkonstellation  im Sinne einer pure red cell aplasia  mit fehlenden Retikulozyten  und Riesenproerythroblasten im Knochenmark. Eine negative PCR im Serum schließt eine akute Infektion weitgehend aus.  Therapeutisch kann Erythropoetin  (Dosierung  100-200IU/kg 3x/Wo. oder 40.000 IU 1x/Wo. über 12 Wochen oder bis HKT > 38% ) bei Serum-Epo-Spiegel < 500 IU/L substituiert werden. Transfusionen nicht leukozytendepletierter Erythrozytenkontentrate können zu einer erhöhten Virämie und zu einem erhöhten Risiko für opportunistische Infektionen führen. Parvovirusinfektionen können mit Immunglobulininfusionen ( Dosierung: 400 mg/kg/Tag über 5-10 Tage ) behandelt werden.

Leukopenie

Eine milde Neutropenie ist relativ häufig bei HIV-Patienten. Sie hat in der Regel keine große klinische Bedeutung. Häufig werden Anti-Neutrophilen-Antikörper beobachtet, deren Präsenz aber nicht mit dem Grad der Neutropenie korreliert. Jede unklare Leukopenie sollte immer  Anlass sein, bei der Abklärung einen HIV-Test zu machen. Absolute Neutrophilenzahlen < 1000/µl sind mit erhöhtem Risiko für bakterielle Infekte verbunden. Die Gabe von G-CSF wird bevorzugt (schnellere Wirkung, weniger NW) im Vergleich zu GM-CSF, das in vitro zu einem Anstieg der Viruslast geführt hat. Das Gleiche gilt auch für die Abklärung einer unklaren Thrombopenie  und einer poly- bzw. monoklonalen Gammopathie.

Thrombopenie

Der Zusammenhang zwischen Thrombopenie und AIDS wurde schon vor der Entdeckung des HI-Virus beschrieben (Morris, Ann Intern Med 1982, Ratnoff, New Engl J Med 1983; Walsh, New Engl J Med 1984).  Vor der Einführung der HAART wurde eine HIV-assoziierte Thrombopenie (<150/nl) bei ca. 5-30 % der HIV-infizierten gefunden. In der Multicenter-AIDS-Cohort-Study fand sich eine Thrombopenie <150/nl bei 2,8% der HIV-Infizierten mit Helferzellen über 700/µl, aber bei 10,8% bei Helferzellen unter 200/µl.

Die Ursache der Thrombopenie bei HIV-infizierten Menschen kann vielfältig sein.  Sowohl eine verkürzte Plättchenüberlebenszeit mit Verdopplung der Sequestration in der Milz als auch eine ineffektive Thrombopoese trotz 3fach erhöhtem Thrombopoetin (TPO) sind beschrieben.  Der Mechanismus scheint mit dem Krankheitsstadium zusammen zu hängen. Bei einer frühen HIV-Infektion mit gutem Immunstatus ist der Mechanismus eher wie bei der klassische ITP, d.h. immun vermittelt mit erhöhtem peripherem Verbrauch. Bei fortgeschrittener HIV-Infektion (AIDS, CD4 < 200/µl) findet sich hauptsächlich eine verminderte Produktion bzw. ineffektive Hämatopoese. Folgende Mechanismen sind laborexperimentell und in vivo beobachtet worden: Peripherer Plättchenabbau vermittelt durch Immunkomplexe und kreuzreaktive Plättchen-AK; Antikörper gegen GPIIIa auf Plättchenoberfläche, die mit Peptid ähnlich dem nef-Protein auf HIV-1 kreuzreagieren und zu  komplementunabhängiger Plättchenfragmentation führen; HIV-Proteasen generieren talin-H, welches dann Antigenepitop für Antiplättchen-AK bei HIV Patienten ist; Megakaryozyten exprimieren CD4-Rezeptor und Korezeptoren, die für HIV-Internalisierung notwendig sind; Megakaryozyten internalisieren HIV; direkter zytopathischer Effekt von HIV auf infizierte Megakaryozyten; Veränderungen des KM-Mikroenvironment durch HIV.

Die isolierte Thrombozytopenie kann Erstmanifestation der HIV-Infektion sein und ist von der gewöhnlichen, HIV-unabhängigen, Immunthrombopenie (ITP) nicht zu unterscheiden.  Die im Zusammenhang mit der HIV-Infektion auftretende Thrombopenie sollte, um Missverständnisse zu vermeiden, "ITP-artige HIV-assoziierte Thrombopenie " (ITP-like HIV-related thrombocytopenia, HIV-TP) genannt werden.

Sie kann in allen Krankheitsstadien der HIV-Infektion auftreten. Bei fortgeschrittener HIV-Erkrankung bzw. niedrigen CD4-Werten wird sie häufiger gefunden. Bei HIV-infizierten i.v. drug usern ist sie häufiger als bei HIV-infizierten MSM. Vor der HAART-Ära war eine Thrombopenie bei 5-30% der HIV-infizierten (T < 150/nl) prävalent. Die Häufigkeit der HIV-TP aktuell unter HAART ist unklar.

Die HIV-TP hat meist eine milde klinische Präsentation und Verlauf. In den meisten Fällen ist die Thrombozytenzahl größer 50/nl. Blutungen sind selten, solange die Thrombozyten über 10/nl sind. Schwere Blutungen treten häufiger bei HIV-infizierten Hämophilen oder bei fortgeschrittener HIV-Infektion zusammen mit weiteren Zytopenien auf. Das Ausmaß der HIV-TP und anderer HIV-Zytopenien korreliert eindeutig mit der HI-Viruslast.

Eine effektive antiretrovirale Therapie resultiert fast immer in einer Besserung der HIV-TP. Die seit langem obsolete Zidovudin-Monotherapie führt zu einem Anstieg der Thrombozyten in 60-70 % der Fälle. Eine HAART ist noch effektiver, aber es existieren keine prospektive Untersuchung oder randomisierter Vergleich hierzu. Eine retrospektive Studie zeigt ein häufigeres komplettes und dauerhaftes Ansprechen bei HAART (Carbonara 2001). Das Ansprechen der HIV-TP auf eine HAART ist schlechter bei i.v. drug usern, möglicherweise wg. zusätzlicher Lebererkrankungen bzw. HCV. Der Anstieg der Thrombozyten nach Beginn der HAART dauert oft mehrere Wochen. Bis dahin sind manchmal zur Überbrückung andere Therapien erforderlich. Die Standardtherapie der klassischen ITP ist auch bei der HIV-TP wirksam. Prednison führt in mehr als der Hälfte der Patienten zu einem Anstieg der Thrombozyten >100/nl, allerdings nur bei Minderheit stabil >50/nl nach Absetzen (Liebmann 2007, Walsh 1985). Eine kurzfristige Steroidtherapie ist auch bei HIV-Infizierten unschädlich bezüglich der Infektionsgefahr, eine Dauerbehandlung sollte möglichst vermieden werden (Liebmann 2008).  Intravenöse Immunglobuline und anti-RhD sind gleich effektiv bei schwer thrombopenen Patienten. Die Splenektomie ist sicher und effektiv bei refraktären Patienten. Nach Splenektomie kann es zu einem vorübergehenden Anstieg der peripheren Helferzellen kommen, Ursache ist wahrscheinlich eine Redistribution aus dem Milzpool in die Zirkulation.

Differentialdiagnostisch muss bei der HIV-TP eine thrombotisch thrombozytopenische Purpura mit hämolytisch urämischem Syndrom (TTP-HUS) mit Nachweis von Fragmentozyten im Diff.-BB bedacht werden. Bei 30 % der Patienten mit einer mit TTP-HUS  wird eine HIV-Infektion nachgewiesen. Pathomechanisch kann HIV Endothelzellen infizieren, was zu Dysfunktion und Inflammation beitragen kann und über Zytokine (TNF alpha, IL1ß) zur Freisetzung von Adhäsionsmolekülen (VCAM-1, ICAM, E-selectin) und damit zu einer erhöhten Koagulationsneigung über Faktor X/Xa  mit Mikroangiopathien führen kann. HIV assoziierte TTP ist unter ART rückläufig, verläuft in der Regel milder und spricht besser als die klassische TTP auf die Therapie an. Therapie der Wahl ist die Plasmapherese oder Plasmaaustausch (35-40 ml/kg pro Austausch mit Ziel-Thrombozyten > 50/nl und LDH < 700IU/l). Die Gabe von Thrombozytenkonzentraten erhöht das Thromboserisiko. CMV-Infektionen scheinen auch mit einer TTP assoziiert zu sein.